Reiner Knudsen

Es gibt keine Wahrheit

Geht es Ihnen manchmal auch so, dass Sie auf die Menschen um sich herum schauen und sich fragen, was bloß passiert ist, dass alle irgendwie in die falsche Richtung zu laufen und zu denken scheinen? Wieso merken die eigentlich nicht, dass sie auf dem Holzweg sind. Das ist doch eindeutig zu erkennen.


Jeder Mensch sieht sich selber als Mittelpunkt der Welt um sich herum. Das kann rein biologisch auch gar nicht anders sein, denn die Welt ist um uns herum angeordnet. Wenn wir uns um unsere eigene Achse drehen sehen wir ganz deutlich: alles Welt. Der einzige Mensch, den wir nicht sehen, sind wir selbst. Zwar können wir uns in Ausschnitten sehen, aber niemals in unserer körperlichen Gesamtheit und schon gar nicht im Kontext unserer Umwelt. Wir sehen uns selber also bestenfalls ausschnittweise.


Ich bin ich – aber was bin ich?


Und dennoch hat der Mensch diese faszinierende Eigenschaft, sich selber als existent wahrzunehmen – und diese Eigenschaft scheint uns von den Tieren zu unterscheiden. Unsere Sinne vermitteln uns einen Eindruck unserer gegenwärtigen Existenz. Das Dumme dabei ist, dass wir keine "Rohdaten" geliefert bekommen, sondern die Natur hinter die Rezeption der Sinne ein Organ geschaltet hat, das mit den Daten macht, was es will: Das Gehirn.


Es herrscht unter vielen Menschen die irrige Annahme, dass das Gehirn die Überlegenheit der Menschen schlechthin repräsentiert. Das glaubt man nur solange, bis man sich einmal mit den Irrwegen des Gehirns beschäftigt hat. Man muss sich nur darüber klar werden, dass praktisch kein Sinneseindruck unbehandelt und ungeschönt daher kommt. Das Gehirn hat jeden Blick, jedes Geräusch, jeden Geruch, jedes Gefühl vorab behandelt.


Nichts ist, was es zu sein scheint


Die Grundlage für die Vorbehandlung sind der aktuelle Kontext und die Lebenserfahrung des betroffenen Menschen. Und so bewerten wir, was wir aufnehmen. Das kann – je nach Kontext (zeitlich, örtlich, emotional...) – völlig unterschiedlich ausfallen. Die Außenwelt kann das bei aufmerksamen Hinschauen als Inkonsequenz verstehen, aber für uns selber scheint alles sinnvoll. Kommt ja vom Gehirn. Muss ja stimmen.


Wenn man diese Gedanken weitertreibt, wird man zu dem Schluß kommen, den der Psychologe Paul Watzlawick bereits sehr treffend beschrieben hat: Es gibt keine eindeutig gültige Wahrheit. Alle Wahrnehmung (!) ist subjektiv und abhängig von unserem Gesamtzustand und unserem Umfeld. Da kann der Motorrad-fahrende Rocker bedrohlich und angsteinflößend sein. Spätestens wenn er den Helm abnimmt und darunter unser Opa steckt, werden wir feststellen, dass das ein sehr lieber Mensch ist – oder eben nicht; ganz nach Opa eben.


Watzlawick hat zwei verschiedene Stufen der Wahrheit beschrieben: Die Wahrheit ersten Grades ist diejenige, auf die wir uns vermeintlich durch unsere Sinneswahrnehmung einigen können. Die Wahrheit zweiten Grades schließlich sei die im Gehirn durchgespülte Wahrnehmung. Aber selbst die Wahrheit ersten Grades ist trügerisch. Sie können gerne mal mit mir über Farben diskutieren...


Der Verlust der Wahrheit – die es aber nie gab


Was bedeutet das aber nun? Das wir in einer Welt chronischer Unwahrheit leben? Ich denke, soweit muss man nicht gehen. Wir haben es als Gesellschaft immer geschafft, einen gewissen Konsens herzustellen, welchen Wahrnehmungen wir mehrheitlich zustimmen können und dies im Sinne von Werten und Normen als Realität definiert. Wir alle aber wissen, dass sich solche Dinge entwickeln können. Auch die Wissenschaften haben in ihrer Geschichte immer wieder vermeintlich als sicher nachgewiesene Erkenntnisse verwerfen müssen – und tun das weiterhin.


Wir müssen uns einfach mit der Tatsache anfreunden, dass nichts "ist". Etwas scheint. Wir nehmen etwas wahr. Unser Eindruck ist. Wer sich auf diese Art des Denkens und Wahrnehmens einlassen kann, erfährt eine Demut vor den Dingen und Menschen, durch die er ihnen zugesteht, doch anders zu sein. Man lässt die Möglichkeit anderer Facetten zu und respektiert deren potentielle Größe und Komplexität. Auf diesem Wege kommen wir zu einer Wertschätzung des Anderen, die weit über einfache Sinneseindrücke hinausgeht, die unser eigenes Gehirn verwurschtelt hat.


Wir stellen fest, dass der blöde Idiot auf der Autobahn auch irgendjemandes bester Freund ist. Das freche Gör ist jemandes geliebte Tochter. Und die Frau mit dem Kopftuch wird für uns als liebende Mutter erkennbar. Und plötzlich ist auch die eigene Welt ein ganzen Stück reicher geworden.